Der Arzt, sein Patient und die Angehörigen

Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. So lautete 1957 der Titel eines sehr berühmten Buches von Michael Balint, das Anlass war für Ärzte, sich intensiver mit den Vorgängen in der Arzt-Patient-Beziehung auseinanderzusetzen. In der Praxis wurde dann die professionelle Seite des therapeutischen Dialogs bearbeitet, was für Generationen von Ärzten viel Gutes bewirkt hat.

In der Behandlung von psychischen Erkrankungen ging die Entwicklung noch weiter und es wurden immer mehr Aspekte interaktioneller Schwierigkeiten Gegenstand professioneller Supervision und Selbsterfahrung. Systemische Denkansätze bereicherten hierbei immens das Verständnis. In diesem Kontext wurde schon sehr früh auch der systemische Stellenwert der Angehörigen betont und in die psychotherapeutische Praxis integriert. In der Behandlung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und den hier sehr starken interaktionellen Schwierigkeiten ist es gar nicht möglich, dass eine klassisch-medizinische Behandlung effektiv sein kann, dass also ein Arzt einen Patient unidirektional - quasi monologisch - behandelt.

Eine effektive Behandlung der Borderline-Störung muss also von Anfang an dialogisch verstanden werden. In der Praxis bedeutet dies ein klares gegenseitiges Abstimmen der Rahmenbedingungen und Therapievereinbarungen und einen offenen und transparenten Umgang mit den gegenseitigen Erwartungen und Zielsetzungen. In der DBT führt dies zu den sehr effektiven Commitment-Strategien. Es bedeutet auch, dass in der Borderline-Therapie jede Seite sich mit der jeweiligen anderen Seite auseinandersetzen muss, d.h. die Experten mit ihren eigenen „borderlinigen“ Anteilen und die Betroffenen mit ihrem Experten-Status. Letzteres wird unterstrichen durch die umfangreiche Literatur von Betroffenen zu dieser Störung.

Es war deshalb nicht überraschend, dass zwei Experten-Betroffene - Anja Link und Christiane Tilly - die in den 80-ziger Jahren in der Psychosetherapie entstandene Idee eines trialogischen Bearbeitens einer psychischen Störung aufgriffen und auf die Borderline-Störung übertrugen. 2003 haben sie den 1. bundesweiten Borderline-Trialog in Ansbach/Franken durchgeführt. Nähere Informationen hierzu und Unterstützung für neue Trialoge auf: www.borderline-trialog.de

Ich habe beide im Rahmen eines DBT-Netzwerktreffens kennengelernt und war von der Idee eines Borderline-Trialogs so fasziniert, dass ich einen solchen Trialog auch im Raum Schleswig-Holstein/Hamburg etablieren wollte. Am 14.03.2007 fand dann eine Startveranstaltung in unserer Klinik in Bad Bramstedt statt. Ähnlich wie in Ansbach war auch dieser Trialog durch ein immenses Interesse gekennzeichnet - aus Raumgründen mussten die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt werden. Hieraus entwickelte sich der jetzt regelmäßig alle 6 Wochen mit wechselnden Themen tagende Borderline-Trialog, Mittwochabends von 18.00-20.00 Uhr. Die Teilnehmerzahl hat sich auf 30-35 pro Sitzung eingependelt; bei zwei sehr spannenden Themen kamen deutlich mehr. Die Zusammensetzung ist meist so: ungefähr 20 Betroffene, 10 Angehörige und 5 Experten.

Für mich als Experte ist es jedes Mal ein äußerst interessanter und bewegender Termin, auf den ich mich freue, da er meine klinische, fast auschließlich Borderline-Tagesarbeit um ganz andere neue Aspekte ergänzt. Die klassische Art der Arzt-Patientenkonstellation wird noch mehr als im oben beschriebenen Sinne aufgehoben. Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit steht die Störung und jeder Teilnehmer äußert spontan und trotz der nicht unerheblichen Stressfakroren - für mich immer wieder überraschend - ruhig und geordnet seine Meinungen und Gedanken zu den jeweiligen Themen. Ebenfalls sehr erstaunlich gelingt es regelmäßg, auch die qualitativen wie quantitativen Anteile am Gespräch zwischen den 3 Gruppen recht ausgeglichen zu gestalten. Besonders beeindruckend erlebe ich die Beiträge und Beteiligun-gen der Angehörigen. Bei diesen handelt es sich sowohl um Eltern von Betroffenen (wie im ursprünglichen Trialog), aber auch um Beziehungspartner von Betroffenen, und sogar Kinder von Betroffenen.

Die sehr verschiedenen Sichtweisen im Umgang mit der Störung und den im Alltag bestehenden Problemen berühren für den Experten oft neue Aspekte und Ebenen der Störung, geben der Störung und dem Umgang damit einen sehr menschliches Gesicht und erlauben eine sehr unpsychologisierende (nicht unprofessionelle !) Herangehensweise an die Probleme. Immer wieder kommt es zu Gesprächssequenzen, in denen gefühlsmäßig weit außerhalb meiner gewohnten therapeutischen Bezüge liegende Erlebnisweisen von Betroffenen und Angehörigen vermittelt werden, die in einer regulären Therapie so nie ausgesprochen würden. Ich bin deshalb als Experte stets sehr dankbar, daran teilhaben zu dürfen und jedesmal wieder überrascht, wie offen und vertrauensvoll die Kommunikation gelingt, trotz der zum Teil beträchtlichen Teilnehmerzahl und der relativen gegenseitigen Unbekanntheit der Personen.

Besonders faszinierend und bereichernd finde ich immer wieder, dass an vielen Stellen deutlich wird, dass die inhaltliche Trennung der 3 Gruppen nicht streng durchzuhalten ist, da Betroffene oft Experten sind, aber auch Angehörige anderer Betroffener. Angehörige wiederum fühlen sich zum Teil als Experten, müssen aber auch feststellen, wie viel Betroffenheit bei ihnen durchaus auch gegeben ist. Nicht zuletzt sind Experten Angehörige (kommen zum Teil sogar deshalb) oder lernen Betroffenenanteile auch bei sich zu sehen. Um nicht falsch verstanden zu werden : es geht nicht um eine Gleichmacherei, die Rollen werden in der regelmäßigen Eingangsvorstellungsrunde klar zugeordnet. Durch das gegenseitige Kennenlernen und immer bessere Verstehen verwischen die Grenzen nicht, werden aber überschreitbar, was nach meinem Eindruck für viel Erleichterung, aber auch Freude bei allen Teilnehmer führt. Hervor zuheben hier sind zwei Mütter, die ohne ihre betroffenen Töchter teilnehmen - da diese nicht mit ihnen sprechen wollen -, und die sehr vom Trialog profitieren. Der Ablauf ähnelt in weiten Teilen Selbsthilfegruppen, themenzentrierten Reflektionsgruppen, Selbsterfahrungsgruppen, Informationsgruppen oder themenzentrierten Diskussionsrunden. Durch die Triangulierung der Sichtweisen kann sich aber nie eine dieser Formen etablieren, sondern die Gestaltung wechselt ständig.

Ich spreche wohl auch für viele andere Teilnehmer, wenn ich denke, dass ich durch den Borderline-Trialog etwas dazulerne, emotional berührt werde, meinen Erlebenshorizont erweitere und spannende Stunden mit recht sympathischen Menschen verbringe. Ich würde mir wünschen, dass solche Trialoge an vielen Orten aufgebaut werden.

Bad Bramstedt, 11.6.2009
Dr. med. Michael Armbrust

Dr. med. Michael Armbrust

Dr. Michael Armbrust

Dr. med. Michael Armbrust - Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Verhaltenstherapeut, zertifizierter DBT-Therapeut - ist Chefarzt der Schön Klinik Bad Bramstedt.

Er ist Ehrenvorstand des Borderline Netzwerk e.V. und beantwortet im Expertenrat Fragen rund um die Themen Borderline und DBT sowie Fragen von Angehörigen.

Darüber hinaus unterstützt er unsere Arbeit mit fachlichem Rat und Supervision.